MAKE UP WAKE UP – neue Fassaden für Neumünster

Zum Ausstellungskonzept (Auszug aus der Eröffnungsrede von Philipp Röhe Hansen Schlichting)

Keramik und Architektur sind geschichtlich eng miteinander verbunden. Keramische Elemente wie Gesimse, Lisenen und Pilaster dienen der Gliederung von Fassaden und Wandflächen, aber auch glasierte Verblender wie Kacheln, Formziegel oder Nasensteine tragen entscheidend zum Erscheinungsbild eines Hauses bei.
Selbstverständlich fühlen wir uns frei diesen „klassischen“ Elementen neue Schöpfungen aller Art hinzuzufügen und nach Belieben mit grafischen und malerischen Mitteln zu neuen Gesamtkunstwerken verschmelzen zu lassen. Wir freuen uns ausdrücklich auf dieses neue Format der Zusammenarbeit und darauf neue hybride Formate zwischen Fassadenmalerei und Keramik zu entwickeln.

Das Keramikkünstlerhaus ist für sein etabliertes internationales Art in Residency Programm bekannt und auch wir von Polychrom wollen mit diesem Schritt den Austausch mit Künstlerinnen und Künstlern erweitern, um zukünftig zu gemeinsamen Projekt nach Neumünster einzuladen.

Wir haben das Ausstellungsformat bewusst als Entwurfsausstellung konzipiert. Alle Entwürfe die Sie hier sehen sind explizit für diese Ausstellung angefertigt worden und auf das Vicelinviertel hier in Neumünster bezogen.

Wie Sie möglicherweise bereits erkannt haben, gibt es drei Fassadentypen, von denen einer mehrfach auftaucht. Diese 3 Fassadentypen sind idealisierte Fassaden aus dem Vicelinviertel, es ist jeweils ein Durchschnittstypus von real existierenden Fassaden gleicher Bauart, die von uns erstellt und als Entwurfsgrundlage zur Verfügung gestellt wurde. Den Künstlerinnen und Künstlern war es freigestellt welchen Fassadentyp Sie bearbeiten wollen.

Aus künstlerischer Perspektive haben wir es bei einer Fassadengestaltung mit einer besonderen Herausforderung zu tun. Dort, wo die Kunstschaffenden gewöhnlich aus dem „tabula rasa“ oder dem „horror vacui“ frei schöpfen können, ist die Auseinandersetzung mit einer Fassade ein wesentlich anderer Fall.

Man muss sich in deutlich höherem Maße mit einem Gegebenen, den Vorgaben der architektonischen Struktur und des Baukörpers sowie der Umgebung und den Menschen die dort wohnen auseinandersetzen. Ein Umstand der deutlich näher an der alltäglichen Lebenswelt operiert als die idealtypische Verfassung von freien Bild- und Körperwelten. Ich möchte in den folgenden und abschließenden Sätzen noch kurz die Bandbreite der ausgestellten Entwürfe genau an diesem Moment des Umgangs und den Reaktionen auf dieses Vorhandene – im Wesentlichen hier formal auf die Fassadenstruktur und seine Gliederung bezogen – kurz beschreiben.

In einem Entwurf wird die Geometrie der Fassade selbst sehr gründlich und analytisch befragt, um ihr dann in wohl proportionierten und spiegelnden keramischen Elementen eine neue, selbstreflexive Ebene hinzuzufügen.

Mehrere Entwürfe reagieren sehr konkret auf die dreieckige Giebelform und greifen damit ebenso ein prägendes architektonisches Element auf, um es dann in eine jeweils eigene malerische Strukturgestalt weiterzuentwickeln:
Diesmal sehr klar an der architektonischen Gliederung orientiert, ein anderes Mal mittels der Diagonalen deutlich quer und freizügiger zur Fassade gehalten.
So entstehen parallele Bildebenen zur Fassade, unabhängige Formen und Farbgebungen erhalten Einzug, bereits etablierte Stile fügen sich ein, formulieren und schreiben die äußere Hülle des Gebäudes um.

In der radikalsten Fassung wird die Fassade schließlich selbst zu einem reinen Bildträger für eine andere Szenerie, Gedächtnisspuren aus der Stadtgeschichte, Erinnerungen werden in die Gegenwart gerückt
und so wieder fest im alltäglichen Stadtbild etabliert.

© PRHS _ 2022